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Das andere Geschlecht
Simone de Beauvoir, 1949

Erstes Buch: Einleitung

„Es gibt ein gutes Prinzip, das die Ordnung, das Licht und den Mann geschaffen hat, und ein böses Prinzip, das das Chaos, die Finsternis und die Frau geschaffen hat.“
Pythagoras

„Alles, was von Männern über Frauen geschrieben wurde, muß verdächtig sein, da sie zugleich Richter und Partei sind.“
Poulain de la Barre

Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. Das ist ein Reizthema, besonders für Frauen, und es ist nicht neu. In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen. Jetzt ist sie nahezu abgeschlossen: reden wir nicht mehr darüber. Es wird aber doch weiter darüber geredet, und es sieht nicht so aus, als hätte die in den letzten hundert Jahren produzierte Flut von Sottisen das Problem geklärt. Gibt es überhaupt ein Problem? Und worin besteht es? Gibt es überhaupt Frauen? […] Man weiß nicht mehr genau, ob es noch Frauen gibt, ob es sie immer geben wird, ob dies wünschenswert ist oder nicht, welchen Platz sie in dieser Welt einnehmen, welchen sie einnehmen sollten. […] Doch zunächst einmal: was ist eine Frau? „Tota mulier in utero: Eine Gebärmutter“, sagt der eine. Über manche Frauen urteilen Kenner jedoch: „Das sind keine Frauen“, obwohl sie einen Uterus haben wie alle anderen. Von allen wird einmütig anerkannt, daß es innerhalb der menschlichen Spezies „Weibchen“ gibt. Sie stellen heute wie ehedem etwa die Hälfte der Menschheit. Und doch sagt man uns, die Weiblichkeit sei „in Gefahr“, man ermahnt uns: „Seid Frauen, bleibt Frauen, werdet Frauen.“ Nicht jeder weibliche Mensch ist also zwangsläufig eine Frau; er muß an jener geheimnisvollen, bedrohten Realität, der Weiblichkeit, teilhaben. Wird diese von den Eierstöcken produziert? Oder ist sie eine abgehobene platonische Idee? Genügt ein aufreizender Unterrock, um sie auf die Erde herunterzuholen? Obwohl manche Frauen sich eifrig bemühen, sie zu verkörpern, wurde ein Gebrauchsmuster nie festgelegt. Das Weibliche wird gern in unbestimmten, schillernden Ausdrücken beschrieben, die dem Wortschatz von Seherinnen zu entstammen scheinen. Zur Zeit des Thomas von Aquin galt es als ebenso eindeutig definierte Essenz wie etwa die einschläfernde Wirkung des Mohns. Aber der Konzeptualismus hat an Boden verloren: die Biologie und die Sozialwissenschaften glauben nicht mehr an die Existenz unwandelbarer Anlagen, die gegebene Charaktertypen wie die Frau, den Juden oder den Schwarzen hervorbringen; sie betrachten den Charakter als Sekundärreaktion auf eine Situation. Wenn es heute keine Weiblichkeit mehr gibt, so, weil es nie eine gegeben hat. Bedeutet das etwa, dass das Wort „Frau“ keinerlei Inhalt hat? Das jedenfalls behaupten die Anhänger der Aufklärung, des Rationalismus und des Nominalismus, indem sie nachdrücklich erklären, die Frauen seien unter den Menschen nur jene, die willkürlich mit dem Wort „Frau“ bezeichnet werden. Vor allem die Amerikanerinnen hängen an dem Gedanken, die Frau als solche komme nicht mehr vor. Und wenn eine Rückständige sich immer noch für eine Frau hält, raten ihr die Freundinnen zu einer Psychoanalyse, um diese Zwangsvorstellung loszuwerden.

Zweites Buch: Einleitung, Werdegang

„Welches Unglück, ein Weib zu sein! Und doch liegt das größte Unglück darin, daß das Weib es nicht faßt.“
S. Kierkegaard

„Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle.“
J.-P. Sartre

Die Frau von heute ist im Begriff, den Mythos der Weiblichkeit außer Kraft zu setzen. Sie beginnt, ihre Unabhängigkeit konkret zu behaupten, jedoch gelingt es ihr nicht mühelos, ihr Menschsein voll auszuleben. Von Frauen in einer weiblichen Welt erzogen, ist ihr übliches Schicksal die Ehe, die sie dem Mann praktisch noch immer unterordnet. Das männliche Prestige ist keineswegs erloschen, es stützt sich weiterhin auf solide ökonomische und gesellschaftliche Grundlagen. Darum muß das herkömmliche Los der Frau sorgfältig untersucht werden. Wie sie ihr Frausein erlernt, wie sie es empfindet, in welches Universum sie eingeschlossen ist und welche Fluchten ihr erlaubt sind, all das werde ich zu beschreiben versuchen. Erst dann können wir begreifen, welche Probleme sich denen stellen, die sich, belastet mit dem Erbe einer schweren Vergangenheit, um die Gestaltung einer neuen Zukunft bemühen.

Wenn ich die Wörter „Frau“ oder „weiblich“ gebrauche, meine ich selbstverständlich keinen Archetypus, kein unveränderliches Wesen. Die meisten meiner Behauptungen beziehen sich auf den gegenwärtigen Stand der Erziehung und der Sitten. Es geht hier nicht darum, ewige Wahrheiten auszusprechen. Vielmehr soll der gemeinsame Hintergrund beschrieben werden, von dem sich jede einzelne weibliche Existenz abhebt.

Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.

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Le deuxième sexe, © 1949 Editions Gallimard, Paris: www.gallimard.fr. Das andere Geschlecht, © 1951 Rowohlt Verlag Hamburg. Hier zitiert wird Das andere Geschlecht in der Neuübersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald, © 1992 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. Zitate auf Seite 8ff und 332ff.