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Tom Holert, 2011

Im Flugzeug, auf der Rückreise von einer dreitägigen Veranstaltung mit Performances, Screenings und Vorträgen zu queerer Theorie und Kunstpraxis in Venedig. [1] Im Gepäck habe ich Le deuxième sexe, diese 1949 erstmals veröffentlichte historisch-kritische Monografie über „die Frau“ (zweigeteilt in „Fakten und Mythen“ und „Gelebte Erfahrung“), in der Taschenbuchausgabe der bislang letzten, von Uli Aumüller und Grete Osterwald besorgten, sehr gut lesbaren, 941 Seiten umfassenden deutschen Übersetzung von 1992, die weiterhin Das andere Geschlecht (und nicht, wie im Original, das „zweite“) betitelt ist.

Ich habe darauf geachtet, aber Simone de Beauvoir war auf der erwähnten Veranstaltung kein Thema, jedenfalls nicht ausdrücklich. Sie gehört nicht zu den einschlägigen Stichwortgeber/innen der aktuellen Debatten über Strategien einer kritischen Denormalisierung, einer widerspenstigen Verkörperung oder einer Rekonzeptualisierung von Geschlecht. Aber auf „Queering Idols“, einem Poster von Sabina Baumann aus dem Fanzine „Feeling Bad. Queer Pleasures, Art & Politics“, das in Venedig verkauft wurde, war sie dann doch zu sehen – neben Susan Sontag, Patti Smith, Leigh Bowery, Audre Lorde, Terre Thaemlitz oder Shu Lea Cheang. Im Pink-Pantheon der queeren (oder zu queerenden) Idole hat Beauvoir ihren Platz eingenommen. [2]

Eingepfercht in meinem Easyjet-Sessel beginne ich mit dem Zweiten Buch von Le deuxième sexe („Gelebte Erfahrung“). Der erste Abschnitt („Kindheit“) des ersten Teils („Werdegang“) eröffnet mit dem fulminanten Satz, den alle kennen (was immer „kennen“ hier auch heißen mag): „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ („On ne naît pas femme: on le devient“). Seltsamer Satz, reicher, irritierender, tausendfach kommentierter Satz. Das „Man“ („on“) als Subjekt. Das „Es“ („le“) als Objekt. Kein weiblicher Artikel, keine weibliche Endung. Die Abwesenheit des grammatisch Weiblichen als Zeichen des immer-schon-maskulinen Subjekts?

Natürliche Körper und konstruierte Geschlechtsidentitäten verhielten sich zueinander radikal heteronom, schrieb Judith Butler in einem Essay über „Sex and Gender in Simone de Beauvoir’s Second Sex“ von 1986 in der Zeitschrift Yale French Studies, dessen ausgedrucktes PDF ich ebenfalls bei mir führe. Dies ist ein fast vergessener Text, verdrängt von Butlers Klassiker Gender Trouble (1990), in dem die Auseinandersetzung mit Beauvoir kritisch und knapp ist und vor allem die Funktion hat, zur ausführlichen Diskussion der Texte von Monique Wittig überzuleiten. Aus der Irreduzibilität von Anatomie und Kultur folgt, so Butler 1986, „dass weiblich ‚zu sein‘ und eine Frau ‚zu sein‘ zwei sehr unterschiedliche Arten des Seins sind.“ Dies sei der entscheidende Beitrag, den der Satz zu Beginn des Zweiten Buches von Le deuxième sexe für die feministische Theorie leiste. [3] (Nachdem Beauvoir allerdings, so wäre zu ergänzen, bereits in der Einleitung zum Ersten Buch die zentrale Frage ihres Projekts – „was ist eine Frau?“ – als ontologische gefasst hat.)

Aber ist nicht vielleicht genauso entscheidend, dass Beauvoir an dieser Stelle eben nicht von einem Sein, sondern von einem Werden spricht? Butler antwortet darauf selbst, indem sie unterstreicht, wie Beauvoirs Konzept des Werdens die „interne Ambiguität von Geschlechtsidentität [gender] als sowohl ‚Projekt‘ wie auch ‚Konstrukt‘ in Einklang bringt.“ [4] Dadurch, dass sie die Mehrdeutigkeit von Werden bewahre, fasse Beauvoir gender als den körperlichen Ort von gleichermaßen erworbenen wie neu geschaffenen kulturellen Möglichkeiten.

Beauvoir (und Butler) im Flugzeug lesen. Mir fällt ein berühmtes Foto ein. Es zeigt Beauvoir und Sartre in einer Pan-Am-Maschine auf ihrer Reise von Paris nach Rio de Janeiro im Jahr 1960. Beauvoir sitzt am Fenster, Sartre am Gang. Beide lesen, Sartre eine Zeitschrift, Beauvoir ein Buch. Die Sessel sind mit weißen Überzügen geschützt. Vor den Kabinenfenstern hängen gefältelte Vorhänge. Hinter den beiden französischen Star-Intellektuellen sitzt eine offenbar alleinreisende Frau. Sie liest ebenfalls, wenn sich auch nicht erkennen lässt, was. Beauvoir und die unbekannte Leserin winkeln leicht ihre Köpfe an und bilden einen (femininen? feministischen?) Gleichklang.

Wahrscheinlich wussten alle Beteiligten dieses Moments, dass sie fotografiert werden. Das Lesen erweist sich als Pose, als performative Handlung. Der Topos der lesenden Frau, in der europäischen Kunst endlos variiert, erhielt mit dieser Fotografie eine weitere Wendung. Gelesen wird hier, 1960, im Kollektiv der Reisenden, die sich eine solche Fortbewegung leisten können. Paarweise oder allein nutzen die Lesenden die Zeit der Reise, als privilegierte immaterielle Arbeiter/innen im Flug.

Das Foto habe ich auf dem Blog einer immateriellen Arbeiterin, einer brasilianischen Soziologin (wieder) gefunden. Sie nennt sich „Beauvoiriana“ und postet seit April 2010 auf http://avecbeauvoir.wordpress.... Bilder, Videos und kleine Essays, unter anderem einen Text über die Venedigreisen von Beauvoir und Sartre, über die beauvoirianische Ambiguität und die Frage „Warum Beauvoir heute lesen?“ Es sind Beiträge eines Fans. Wahrscheinlich eine junge Frau, aber das ist bereits eine Projektion. „Beauvoiriana“ entwirft fiktive Briefwechsel mit „Simone“. Ihr Traum ist das unmittelbare Gespräch mit der Autorin von Le deuxième sexe. Vor seiner Realisierung steht die Überwindung des Todes und der Geschichte.

Aber Beauvoir ist nicht nur historische Figur, sondern Zeitgenossin. Sie gehört zu den Autor/innen, deren Werk immer wieder auf die Frage antworten muss: Was hast du uns heute (noch) zu sagen? Diese Frage freilich ist eine Zumutung. Sie ist wie ein Kommando, sich vor den Heutigen zu legitimieren. Zugleich handelt sie davon, was dieses Werk bereits ausgelöst und verändert hat. Deshalb werden seine historischen Wirkungen an den Wirkungen gemessen, die jetzt zu spüren und in Zukunft zu erwarten sind.

Zurück im Flugzeug, bei meiner Lektüre. Vor dem ersten Teil des Zweiten Buches von Le deuxième sexe hat Beauvoir eine „Einleitung“ eingehängt. Es ist die zweite Einleitung in ihrem Werk, aber sie ist deutlich kürzer geraten als die erste, nicht mehr als zwei Absätze, denen zwei Zitate vorangestellt sind. Die Zitate stammen von Søren Kierkegaard und Jean-Paul Sartre. Das eine ist ein herablassendes, frauenfeindliches Statement über „das Unglück, ein Weib zu sein“, das deshalb noch größer werde, weil „das Weib es nicht fasst“, das Unglück. Das andere – „Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle“ – bemüht sich um eine universalistische Note, aber erscheint wohl auch aus diesem Grund in seiner Isoliertheit irgendwie nichtssagend oder auch einfach nur läppisch.

Ich frage mich, welche Funktion diese Zitate haben sollten. Beauvoir wiederholt hier eine Anordnung, mit der sie ihre Einleitung zum Ersten Buch eröffnet hat: Pythagoras’ Unterscheidung zwischen einem „guten Prinzip“ und einem „bösen Prinzip“, nämlich dem männlichen und dem weiblichen, ist unzweideutig misogyn. Demgegenüber wirkt die Warnung des cartesianischen Frühfeministen François Poulain de la Barre, dass alles, was von Männern und Frauen geschrieben sei, verdächtig sein müsse, „da sie zugleich Richter und Partei sind“, geradezu fortschrittlich.

Was als Zeichen einer allzugroßen Abhängigkeit von männlichen Stichwortgebern gewertet worden ist, lässt sich ebenso gut als Strategie der Depotenzierung interpretieren. Beauvoir verleiht den Zitaten von Pythagoras und Poulain de la Barre, Kierkegaard und Sartre ein symbolisches Gewicht, das aber nicht lange Bestand haben soll. Sie lässt die dissonanten Männersätze aufeinanderprallen, sodass ein schiefer Akkord erklingt, um daraus ihre eigenen symphonischen Beweisführungen zu entwickeln. Die exemplarischen männlichen Lehrmeinungen über Geschlechterverhältnisse und Heterosexualität dienen Beauvoir als – mehrfach gebrochene – Identifikationsangebote an ihre männlichen Leser. Dass die erwähnten Zitate heute so unmittelbar falsch oder zumindest inkonsequent erscheinen, hängt ja auch damit zusammen, dass der Text mich auffordert, diese Identifikationsangebote zu prüfen und nach den Gründen zu suchen, weshalb ich glaube, sie kritisieren und zurückweisen zu können.

In der Kabine des Billigflieger-Airbus, der von Signalen kollabierender Ökonomien, heterosexuellen Rollenverhaltens, körperlicher Erschöpfung und mentaler Niedergeschlagenheit überflutet ist, lese ich wieder und wieder die Einleitung zum Zweiten Buch, um zu verstehen, worum es bei einem Wiederlesen von Le deuxième sexe gehen könnte. Sie handelt vom „Gebrauch der Wörter“ und vom „gemeinsamen Hintergrund und schwankt – wie das ganze Buch – zwischen visionärem Elan und nüchtern-pessimistischer Lagebestimmung. Die Formulierungen sind deutlich, bremsen sich aber im Tempo und in der Konkretion ihrer Behauptung gegenseitig aus: „Die Frau von heute ist im Begriff, den Mythos der Weiblichkeit außer Kraft zu setzen.“ Diesem Satz folgt kein Hinweis auf das Wie dieser mythenkritischen Aktivität, sondern eine Einschränkung. Obwohl die „Frau von heute“ ihre Unabhängigkeit zu behaupten beginne, blieben für sie die Hindernisse groß, „ihr Menschsein voll auszuleben“.

Beauvoir skizziert in wenigen Zeilen eine Methode, die das politische Projekt der Befreiung an die Analyse der diese behindernden Verhältnisse koppelt. So allgemein gesagt, fällt Zustimmung leicht. Schon beim Begriff der „Frau“ verkomplizieren sich allerdings die Dinge, nicht zuletzt, weil Beauvoir selbst das Frau-Werden zum Problem erklärt und sich damit späteren queer-feministischen Lesarten geöffnet hat.

Aus einem ökologisch bedenklichen Traum über einen Simone-de-Beauvoir-Motto-Maskenball im spätsommerlichen Venedig, mit lauter uneindeutig gegenderten Akteur/innen, die, Kopftuch im Haar, an Le deuxième sexe weiterschreiben, bis sich die Stellen über die „menschliche Natur“ und das „notwendige .... Verhältnis des Mannes zum Weibe“ (Marx, von Beauvoir zustimmend zitiert) vielfarbig verflüssigen und wie das Motoröl der Wassertaxis in die Kanäle der Lagune abgeleitet werden, wache ich erst wieder auf, als mir jemand vom Flugpersonal den Kopfhörer anlupft und bedeutet, doch bitte den hinteren Ausgang zu benutzen. Ich traue mich nicht zu fragen, ob ich noch etwas bleiben darf.

/

Tom Holert ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler. Er lebt in Berlin.

Redaktion: Jo Schmeiser, Sabine Rohlf

Der Text erscheint am 22. Dezember 2011 in der Wiener Zeitschrift „MALMOE“.

Anmerkungen

1) „Chewing the Scenery“, kuratiert von Andrea Thal, Zweiter Schweizer Pavillon im Teatro Fondamenta Nuove, Kunstbiennale Venedig 2011
http://www.chewingthescenery.n...

2) FEELING BAD – queer pleasures, art & politics, herausgegeben von Karin Michalski, mit Beiträgen von Ann Cvetkovich, K8 Hardy, Wynne Greenwood und tektek/Berlin, Berlin 2011
http://www.workingonit.de/work...
http://www.karinmichalski.de/

3) Judith Butler, „Sex and Gender in Simone de Beauvoir’s Second Sex“, in: Yale French Studies, No 72, 1986 (Simone de Beauvoir: Witness to a Century), S. 35-49, hier: S. 35
http://www.jstor.org/pss/29302...

4) Ebenda, S. 37