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Die Conversations sollen Denkräume zwischen den Autor/innen und ihren Bezugnahmen auf den Referenztext eröffnen. Die Redaktion stellt eine Reihe von Fragen, welche die Autor/innen wählen bzw. auch verwerfen können. Zu antworten, nicht zu antworten und eigene Themen einzubringen, steht den Autor/innen frei.

Conversations Jamika Ajalon / Rúbia Salgado

Conzepte /

Strange Fruit ist das einzige Musikstück in unserem Conzepte-Projekt. Wir haben uns gefragt, ob es schwerer oder vielleicht auch einfacher ist, auf einen Song zu reagieren. Musik appelliert stark an Gefühle, schafft Stimmungen, erzeugt Wirkungen, die sich manchmal kaum in Worte fassen und rationalisieren lassen. Ähnliches gilt auch für Poesie, die ja ganz anders funktioniert als ein argumentierender Text oder eine Erzählung. Und die Lyrics von Strange Fruit sind ganz sicher ein Stück Poesie. Jamika hat mit einem eigenen Song geantwortet, Rúbia mit einem Text, der aber seinerseits einen ganz speziellen Umgang mit Sprache zeigt. Was denkt Ihr?

Jamika Ajalon /

Meine erste Reaktion war ja ein Gedicht. Sogar mit dem Soundscape ist es eigentlich mehr ein Gedicht als ein Lied. Es war eine Herausforderung, nicht ins Fahrwasser von Klischees zu geraten. Ich wollte kein Gedicht schreiben, das die Stimmung des Billie-Holiday-Liedes einfach nur widerspiegelt, sondern einen Ton finden, der meiner Lebensrealität entspricht. Ich weiß nicht, ob es schwerer oder leichter ist auf ein Lied zu reagieren als auf einen akademischen Text, eine Malerei, ein Foto, eine Fernsehshow, oder was auch immer… Was aber schwer ist, denke ich, ist eine persönliche oder vielleicht auch eine humane Wahrheit, die ein Text oder jede andere Kunstform hervorrufen kann, auszudrücken.

Rúbia Salgado /

Poesie begleitet mich und bedingt mein Denken und somit mein Sprechen, aber vor allem mein Schreiben, seit jeher. Die Poesie begleitet mich in der Artikulation meiner Gefühle, meiner Gedanken. Und sie begleitet mich in der Artikulation politischer Anliegen. Politik und Poesie schreiben sich in einander ein, hier und woanders. Die Lyrics von Strange Fruit, von mir ebenfalls als „ganz sicher ein Stück Poesie“ gelesen, bestärken bei mir zweifelsohne eine bestimmte Annäherung an die Sprache, die einen Zugang zur Welt anstrebt, der mehr- oder uneindeutig sein will und gleichzeitig eindeutig sein kann, der sich einer Rationalität bedient, um sie in einer irritierenden sprachlichen Umgebung zu platzieren, die von einem poetischen Subimpetus durchdrungen ist.

Conzepte /

Wie bist Du zur Metapher der „White Birch“ gekommen? Was bedeutet das „Weiße“ (White) für Dich, was die Birke (Birch), oder der Zweig (Branch), und wie steht die Metapher insgesamt (die das Weiß ja verdoppelt, denn eine Birke hat ja einen weißen Stamm, eine weiße Rinde) mit Holidays Lied in Zusammenhang?

Jamika Ajalon /

In meiner Kindheit und Jugend habe ich oft unter einer weißen Birke Trost gefunden. Sie stand in meinem Vorgarten… Als ich darüber nachdachte, wo ich mit diesem Gedicht hin will, fiel mir ein, dass Bäume miteinander reden, dass sie ein Gedächtnis haben. Und selbst wenn dieser Baum, so wie ich auch, zu Frau Holidays Zeiten nicht am Leben war, so haben wir doch beide die Erinnerungen in unserer DNA verschlüsselt. Ich begann mir die Traurigkeit und das Entsetzen vorzustellen, welche die Bäume mit dem „Blut an den Wurzeln“ „aufgesaugt“ haben müssen und wie diese Erinnerung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Meine weiße Birke war wiederbelebend wie es Bäume im Allgemeinen sind. Teil ihrer Funktion ist es, Leben zu erhalten indem sie die Luft säubern, den unter ihnen Sitzenden neue Energien spenden oder eine Ruhepause von der Sonne gewähren… Und dann stell Dir vor, nicht nur als Werkzeug, sondern als Mordwerkzeug verwendet zu werden – die entsetzliche Ironie des Ganzen! Der Bezug auf Weißsein ist hier, aus meiner Sicht, rein zufällig, aber wie es mit Poesie eben ist, vermehrt sich Bedeutung, verändert sich durch die Zeit und auch durch die Leser/innen.

Conzepte /

Eine Frage zu Form und Schreibweise an Dich, Rúbia: „Unbehaglich durchgehend“ kommt mit sehr wenigen Verben aus; und Du verwendest wie in allen Deinen Texten Neologismen. Das Fehlen der Verben macht den Text sperrig und man kann ihn nicht bequem durchgehen, wie der Titel schon ankündigt. Wie ist die Ästhetik Deines Textes entstanden: Wie hast Du formale Entscheidungen getroffen und wie verhalten sich diese, mit dem heutigen Abstand zum Schreibprozess, zur Poesie von Strange Fruit?

Rúbia Salgado /

Warum sollten Texte bequem gelesen werden können? Und etwas genauer: Warum sollten Texte von Migrant/innen in der hegemonialen Sprache Deutsch bequem gelesen werden können? Ich vermute eine Selbstverständlichkeit bezüglich des Achtens herrschender Normen, die diesen Fragen inhärent ist. Warum das Thematisieren von Neologismen, wenn ich im Text – übrigens in Akzeptanz eines Vorschlags der Redaktion – bereits erklärte, welche Funktion der Schaffung von Neologismen zugeschrieben werden könnte: das In-Anspruch-Nehmen der hegemonialen Sprache Deutsch. Eine im Text einer Migrant/in im Kontext der nationalstaatlichen österreichischen Gesellschaft genug erklärende Aussage. Das Beantworten der Frage jedoch ist lustvoll. Und sinnvoll, denn wie vorher bereits kurz eingeworfen: Poesie und Politik schreiben sich in einander ein, auch hier. Die Entscheidung für poetische Prosa. Widerspiegelung einer anthropofagischen Haltung [1] auf die lexikalische oder auch morphologische Oberfläche der dominanten Sprache, und darüber hinaus auch etwas tiefer: bis zur Syntax. Und die Verwischung der Grenzen zwischen diskursiven Formationen. Queer. Interventionen in die dominante Norm, Markierungen, störende Spuren im gewöhnlichen Fließenden, die als Sperre vielleicht wahrgenommen werden. Und sprachpolitische Evidenz: die (deutsche) Sprache in ihrer Konstitution als sich ständig Bildende demonstrativ mitzutragen, als Angehörige von Gruppen, denen das Mittragen/Mitbilden untersagt (und die Handlung sanktioniert) wird.

Jamika Ajalon /

Ich habe es wirklich genossen, Deinen Text zu lesen, Rúbia... Er nimmt unter anderem die komplexen Themen der Rückaneignung, des kulturellen Austausches und der Intersektionalität in Angriff. Beim Lesen fiel mir eine weitere Verbindung zwischen der brasilianischen Funkeira-Musik-Bewegung und dem historischen Blues aus Holidays Ära ein: und zwar die Tatsache, dass Blues damals – zu Ma Raineys und dann Bessie Smiths Zeiten vielleicht noch viel mehr – als „niedrigkulturelle“ Musik betrachtet wurde. Musiker/innen sangen über Alkoholismus, Betrug, Sex…, sogar über Homosexualität! Später, zu der Zeit, als Holiday bekannt wurde, waren ihre Zuhörer/innen „kultivierter“ und sie waren eher weiß. Aber diese Publika entstanden aus dem Begehren einer weißen Öffentlichkeit, etwas Authentisches zu sehen, zu erleben, Teil davon zu sein. Könntest Du etwas dazu sagen in Bezug auf die brasilianische Funkeira-Musik?

Rúbia Salgado /

Ja, ich denke auch, dass hier eine Verbindung identifiziert werden könnte. Anlässlich Deiner Frage habe ich wieder einige Zeit mit Internetrecherchen verbracht, denn das ist aktuell mein Zugangsmedium zum Funk carioca. Dabei bin ich auf den Begriff Funk light gestoßen. Hier sind die Texte der bürgerlichen Moral angepasster, romantische Themen erklingen in einer melodischen Selbstverständlichkeit, die beim Funk carioca nicht zu finden ist. Aber nicht nur der Funk light expliziert das Begehren nach dem „Erleben von etwas Authentischen“ eines weißen Publikums. Auch einige Schwarze Funkeiras, die nicht dem Funk light zuzuordnen wären, treten längst nicht nur mehr im baile Funk (Favelas-Peripherie-Kontext) auf. Sie sind im Fernsehen, im Radio, in Mainstreamsendungen präsent. Und der Funk, den sie machen verändert sich. Und sie verändern sich auch. Ob die Verbreitung des Funk durch Mainstreammedien eine verändernde, irritierende, störende Wirkung auf die brasilianische klassistische, sexistische, rassistische Gesellschaft hat, kann ich nicht beantworten.

Conzepte JS /

Wie war es für Dich, Jamika, auf Billie Holiday und besonders auf Strange Fruit Bezug zu nehmen? In Deinem Song White Birch Blues ist das „Wohnzimmer“ mit einem Teppich aus „zerbrechlichen Eierschalen“ ausgestattet. Das deutet ein jedenfalls fragiles Terrain an. Drückt sich hier eine Vorsicht, ein Zögern, eine Schwierigkeit aus, Dich auf Strange Fruit zu beziehen? Oder hast Du ganz andere Assoziationen zu diesen Songzeilen?

Um Euch klarzumachen, woher ich spreche: Als ich Jamikas Songtext zum ersten Mal las, dachte ich sofort an den unsicheren Boden, den die Auswahl des Holiday-Liedes für Conzepte bedeutet: Zwei weiße Frauen laden eine Schwarze Frau und eine Migrantin ein, auf Strange Fruit Bezug zu nehmen. Ist das strukturell das Gleiche wie das Handeln Abel Meeropols, der Billie Holiday den Liedtext zur Interpretation gab, oder wie jenes der weißen Besitzer des „Café Society“, in dem Holiday das Lied sang? Hier würde mich auch Deine Lesart, Rúbia, von Jamikas Songzeilen interessieren.

Rúbia Salgado /

Ich lese in Jamikas Liedtext eine Gegenfeier. Eine Trotzerinnerung an die Fortsetzung der Gewalt, eine Begleiterinnerung zur Anerkennung der politischen Bedeutung des Liedes von Billie Holiday.

Jamika Ajalon /

Sobald etwas, ein Gedicht, ein Liedtext, usw. von einer anderen Person gelesen wird, wird es Teil der Vorstellung dieser Leserin oder dieses Lesers – in gewisser Weise gehört ihnen dann die Bedeutung – weswegen ich auch zu sagen zögere, woher die von Euch angesprochene Metapher kommt… Aber eigentlich habe ich mich auf persönliche Erfahrungen in meiner Kindheit und Jugend bezogen – auf Zeiten, in denen die Gewalt in meinem Leben so massiv war, dass man sich vorsichtig bewegen musste, um keine Schwierigkeiten zu bekommen… Bis zu einem gewissen Grad spiegelt das eigentlich wider, was Schwarze Menschen (people of color) im rassistischen Amerika zu Billie Holidays Zeiten durchmachen mussten – wie wir uns in Zeiten der Gewalt anpassen / überleben… Zur Logistik der Anfrage von weißen Frauen, den Song neu zu interpretieren: Ich würde nicht sagen, dass dies Holidays Situation wiederholt, da die Fragen nach Privileg und Impetus andere sind. Aber vielleicht gibt es hier ein Echo… Ich glaube, Meeropol fand wirklich, dieses Lied muss gehört werden und Holiday war seine Komplizin. Ich denke, die Motivation hinter unseren Kooperationen kommt von einem ähnlichen Ort – denn Elemente kritischen Denkens sind ebenso dabei wie ein Verständnis, dass das Gelände, in dem wir arbeiten, komplex und vielschichtig ist.

Conzepte JS /

„Eine sonst unmögliche Komplizität schwebte im Raum“, schreibst Du am Anfang Deines Textes, Rúbia. Was hat diese temporäre Komplizität möglich gemacht und warum ist sie sonst unmöglich? Für mich drückt sich an dieser Stelle spontane Verbündung und Solidarität aus, die entgegen aller Erwartung und der gesellschaftlichen Differenz zum Trotz entsteht. Wie lassen sich solche überraschenden Momente oder Begegnungen in eine Zusammenarbeit oder Politik übersetzen? Glaubst Du da an die Stärke, Fähigkeit und Intensität der Einzelnen, oder gibt es auch (strukturelle) Kriterien?

Rúbia Salgado /

Es ging um Taktik. Wir beide im Territorium der Majoritären, die gegenwärtig und seit langem macht- und gewaltvoll versuchen, uns als Andere herzustellen. Und es auch immer wieder tun. Die gesellschaftlichen Differenzen zwischen uns, Tati Quebra Barraco und Rúbia Salgado, im Moment aufgehoben. Taktisches Homogenisieren.

Conzepte /

Du konstatierst in Deinem Text auch einen Widerspruch, der aus Deiner spezifischen Sprecher/innen-Position heraus entsteht. Meinst Du damit, dass der weiße Anteil Deiner Position es erschwert, (angemessen, reflektiert, interessant, ...?) über Billie Holiday und ihre Arbeit zu schreiben? Du deutest ja schon an, wie komplex die Dinge sind, wenn Du die Gleichsetzung Deiner Position mit denen der weißen (westlichen) Akademiker/innen problematisierst. Kannst Du mehr zum Widerspruch, oder den Widersprüchen, sagen?

Rúbia Salgado /

Vor allem sind die Widersprüche meine Hoffnungen. Deswegen habe ich letztendlich nach langen Überlegungen den Text geschrieben. Und ich denke an Frigga Haug, wenn sie über das sich selbst Widersprechen schreibt. Wenn ich durch das Feststellen von Widersprüchen nicht paralysiert werden will, dann ergreife ich die Option, die Fähigkeit zu pflegen, mir selbst hinsichtlich meiner herrschaftsdurchsetzten Erfahrungen, Gedanken und Handlungen zu widersprechen. In kritische Distanz zu ihnen zu gehen und sie umzuarbeiten. Ein Ziel im Feld des Unmöglichen. Die Erfahrung der Unmöglichkeit macht sich möglicherweise in der Auseinandersetzung mit dem Widerspruch (die Anderen zum Verstummen zu bringen, indem gehandelt/gesprochen wird) sichtbar. Ein Ziel im Feld des Unmöglichen, jedoch ein Ziel, dessen Verfolgung Hoffnung hervorbringt. Und ich denke an Gayatri Chakravorty Spivaks Frage: „Was ist denn das, was ich nicht nicht wollen kann?“. Das Wissen um die Widersprüche und um den Umgang damit.

Bei beiden Theoretiker/innen geht es meines Erachtens dabei um Hoffnung. Die Hoffnung, die aus der Kritik entfaltet werden kann. Die Kritik und Selbstkritik als Handlungen, die Widersprüche in produktive, transformative Kraft verwandeln. Sich selbst widersprechen. Die Benennung und der Versuch, Widersprüche als produktive Spannung zu betrachten und Praxen umzusetzen, die diese produktive Kraft hervorrufen würden, könnten möglicherweise als Konsequenz einer Ethik der Verantwortlichkeit gegenüber den Anderen, die ebenfalls von Spivak in Anlehnung an Derrida formuliert wird, gesehen werden. Ich denke, dass eine solche Ethik nicht nur aus der Verwandlung von Widersprüchen in eine transformative Kraft bestehen würde. Die Benennung und der produktive Umgang mit Widersprüchen würden möglicherweise einen Teil der Ethik der Verantwortlichkeit bilden. Es wäre eine Ethik der Verantwortlichkeit, die dem Widerstand gegen Herrschaftsstrukturen und -praxen und der Utopie einer Transformation gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Verhältnisse verpflichtet ist. Eine Ethik der Verantwortlichkeit, die dem sich selbst Widersprechen verpflichtet ist.

Aber ich habe auch eine Frage an Dich, Jamika. Ich glaube in Deinem Text lesen zu können, dass Du die politische Dimension in der Rezeption des Liedes Strange Fruit bemängelst. Zu dieser Interpretation führt mich zum Beispiel das Adjektiv „leftover“ und die Bezeichnung des Liedes als „rustic poetry“ (die die Schlinge in ihrer historischen Bedeutung in den Hintergrund schiebt und den Baum ins Zentrum stellt). Es würde mich interessieren, wie Du diese Betrachtung (Verlust der politischen Kraft zugunsten des „Rustikalen“, der „Naivität“), falls Du meine Leseart teilst, im Verhältnis zur breiten Rezeption des Liedes (in Ländern des Westens) und zur verbreiteten Meinung bezüglich seiner politischen und historischen Relevanz im Kontext der Politisierungsprozesse in der populären Kulturproduktion siehst.

Eine weitere Frage ergibt sich daraus: Würdest Du meinen, im Mainstream blieb die Rezeption von Billie Holiday als „sanguine beauty“ erhalten? Hat sich das Bild von Holiday als die „nicht genug Gebildete“ durchgesetzt, die nicht in der Lage gewesen wäre – wie die weißen Männer um sie damals meinten – den Text in seiner Relevanz zu verstehen? Wenn ja: Welche Strategien werden von Schwarzen Musiker/innen heute entworfen, um dieser rassistischen, sexistischen und klassistischen Vermittlungspraxis und Rezeption entgegenzuwirken?

Jamika Ajalon /

Die Arbeit war überhaupt keine Kritik an dem Lied, sondern eine Neuinterpretation in heutigen/zukünftigen Zeiten. Im Gedicht habe ich mich zuerst auf die Tatsache bezogen, dass die Massenhinrichtungen von Schwarzen Menschen (people of color) durch Erhängen auch oft fotografiert und als Postkarten verkauft wurden. Ich stellte mir eine gegenwärtige/zukünftige „Repräsentation“ davon als digitale Postkarten vor. Ein Sammler/innen-Stück als digitalisierte Version dessen, wofür das Billie-Holiday-Lied den Begriff einer organischen/biologischen „Ernte“ (crop) „geprägt“ hat. In anderen Worten: für die toten, oft verbrannten und verstümmelten Körper von Schwarzen Menschen (people of color). Die Zeilen: „critics praise its sanguine beauty/rustic poetry/brutal simplicity“ (Kritiker/innen preisen ihre blutrote Schönheit/rustikale Poesie/brutale Einfachheit) beziehen sich daher auf mögliche Rezensionen von Kenner/innen dieser „postcard series most sought/left over from the times of Billie/otherwise known as the organic crop“ (heißest begehrten Postkartenserien/übrig aus den Zeiten Billies/sonst als organische/biologische Ernte bekannt).

Vor diesem Hintergrund fände ich es gut, über Exotisierung zu sprechen – Exotisierung von Schwarzen Sängerinnen und wie das eigene Leiden zum Spektakel werden kann. Zwar gibt es heutzutage mehr Mainstream-Sängerinnen, die die übliche Erwartung, dass eine Sängerin ihre Sexualität einsetzen muss, infrage stellen. Doch wiederholen die meisten Mainstream-Erfolgsgeschichten (ausgenommen vielleicht Leute wie Janelle Monáe [2]) traditionelle Normen von Weiblichkeit und Sexualität oder nützen sie aus. Ich habe nichts gegen diese sehr begabten Frauen. Aber das Fehlen und/oder das Verschwinden von Sängerinnen in/aus der Mainstreamkultur, die heteronormativen Ideen von Weiblichkeit nicht gerecht werden, spricht Bände.

Gerechterweise muss man sagen, dass der Kleidungsstil für Jazzmusiker/innen auf der Bühne zu Billies Zeiten einer war, wo sich sich Männer und Frauen mächtig in Schale warfen. Das heißt, Frauen traten im prächtigen Abendkleid auf und Männer in Anzug und Krawatte. Es gab zwar ein paar Musiker/innen, die den Dresscode brachen, doch war es auch eine Tradition, die bis zu einem bestimmten Grad von einer afroamerikanischen Ästhetik her weitergegeben wurde. Dass wir „Klasse“ auf der Bühne zeigen, war vorgegeben. Mit Sicherheit wurde Lady Day zu ihrer Zeit sowohl als Frau als auch aufgrund ihrer Hautfarbe exotisiert, da sie oft vor einem großteils weißen Publikum sang, als ihre Berühmtheit wuchs. Als sie anfing Strange Fruit zu singen, war das ein Coup, denn bis zu dem Zeitpunkt handelten fast alle populären Lieder von Liebe und Leiden, während Strange Fruit eine Art Protestlied war.

Aber wahr ist auch, dass Billie ohne Strange Fruit vermutlich eher für Lieder wie Nobody’s Business If I Do berühmt wäre, weil das Lied das Leiden thematisiert, das sie unter dem Einfluss harter Drogen und böser Männer ertragen musste. Dieses Bild von ihr ist beständiger, als eine andere, genauso wahre, wenn nicht sogar noch wahrere Erzählung: dass sie politisch war, das Leben liebte, und es bis zum Äußersten lebte. Dies rückt die Frage nach dem Leiden von Schwarzen Menschen (POC = people of color), das zum Spektakel wird, ins Licht. Es spricht jene Tatsache an, dass man das als „authentisch“ sieht, wenn ein Schwarzer Mensch (POC = person of color) über seinen/ihren erlittenen Schmerz singt. In unserer Zeit wird das beispielsweise an der Popularität des „gangster“ Rap mehr als deutlich, wenn ironischerweise viele dieser „authentischen“ Rapper aus Mittelschichtfamilien kommen und nicht von der Straße. „Sich selber treu zu bleiben“ (Keeping it real) verkauft sich, wenn es einen Stereotyp wiederholt und/oder nährt…

Ich habe versucht über die Rahmung unseres Leidens zu sprechen und darüber, wie diese Bilder unsere Geschichten einrahmen – innerhalb der dominanten Diskurse, die unsere angeblichen Geschichten erzählen. Und wie diese Rahmen den dominanten Blick ansprechen anstatt unsere tatsächlichen Wirklichkeiten. Und wie sie umgekehrt, zu Konsumartikeln werden.

/

Das Gespräch mit Jamika Ajalon und Rúbia Salgado über ihre Texte zu Billie Holidays Lied Strange Fruit (1939) wurde per Email geführt und redaktionell gekürzt. Die Fragen stellten Sabine Rohlf und Jo Schmeiser.

Übersetzung aus dem Englischen (Jamika Ajalon) von Jo Schmeiser und Nicholas Grindell

Literatur

Castro Varela, Maria do Mar / Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005

Angela Y. Davis, Blues Legacies and Black Feminism: Gertrude „Ma“ Rainey, Bessie Smith, and Billie Holiday, New York 1998

Haug, Frigga, „Zum Verhältnis von Erfahrung und Theorie in subjektwissenschaftlicher Forschung“, in: Forum Kritische Psychologie 47: Begreifende Gesellschaftserkenntnis und Subjektivität – Möglichkeitsverallgemeinerung und Idealtypus – Disziplinarmacht und gewerkschaftliche Bildungsarbeit, Hamburg 2004

Holiday, Billie, Strange Fruit, 1939 (Commodore Records 526), siehe: http://www.youtube.com/watch?v...

Spivak, Gayatri Chakravorty, The Spivak Reader, Donna Landry / Gerald MacLean (Hg.), New York / London 1996

Anmerkungen der Redaktion

1) Zum Konzept der Anthropofagie in Rúbia Salgados Texten siehe z.B.:
http://eipcp.net/transversal/0...
http://eipcp.net/transversal/0...

2) Zu Musik und visueller Representation von Janelle Monáe siehe:
http://www.jmonae.com/