Conzepte
Texte
Autor/innen
Team
Zeitungen
 
Kontakt
Suche
 
English
Ilse Aichinger, 1948
Lilly Axster
Katherine Klinger
Conversations
 
Hannah Arendt, 1950
Hannah Fröhlich
Langfassung
Kurzfassung
Referenztext Arendt
Download
Nicola Lauré al-Samarai
Conversations
 
Simone de Beauvoir, 1949
Dagmar Fink
Tom Holert
Conversations
 
Billie Holiday, 1939
Jamika Ajalon
Rúbia Salgado
Conversations
 
Adrian Piper, 1983
Belinda Kazeem
Anna Kowalska
Conversations
 
Yvonne Rainer, 1990
Monika Bernold
Shirley Tate
Conversations
Von Wien
Hannah Fröhlich, 2011

„Wien ist eine schöne Stadt“, schrieb ich in meinem ersten Aufsatz in Ivrith. „Die Straßen sind sauber, die historischen Gebäude werden gepflegt und bleiben erhalten. Die Straßennamen alter Nazis auch.“ Israelis können das kaum glauben. „Gibt es in Österreich Antisemitismus?“, fragt mich Rina, die Ivrith-Lehrerin. „Er ist überall“, antworte ich. Es ist nicht der Antisemitismus, wie er sich durch die jährlich am „Yom HaShoah“ [1] gezeigten Dokumentationen über Nazideutschland in israelische Kinderköpfe einprägt. Es ist ein veränderter Antisemitismus. Er versteckt sich hinter Doppelmoral, wenn es um Israel geht; hinter Einseitigkeit und Desinteresse, ja hinter der Weigerung, die Fakten – beispielsweise rund um die „Gaza Flottille“ – zur Kenntnis zu nehmen. Er versteckt sich auch hinter der Frage, ob sich denn Juden und Jüdinnen nun mehr jüdisch oder mehr österreichisch fühlen. Er versteckt sich hinter der Frage an mich, als Jüdin – nicht als Expertin politischer Fragen, diplomatischer Prozesse und his­torischer Zusammenhänge, wie ich denn glaube, dass der Nahostkonflikt gelöst werden wird. Die Liste ist endlos.

Und nein, es ist kein Zufall, dass gerade in Wien Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte. „Wie kann man in Wien als Jüdin aufwachsen und nicht den Weg in eine Therapie finden“, stellt meine Freundin Sarah fest. „Wie recht Du hast“, lache ich. „Und das sind noch die Glücklichen.“

Wenn ich heute Wien besuche, so tue ich das, um Familie und Freunde zu sehen. Die „Behaglichkeit“ (m)einer gewohnten Umgebung ist ein Gegenpol zu all dem Neuen, das ich in Israel erleben darf. Es ist ein Paradox: Die Behaglichkeit einer Stadt, deren Bewohner/innen zu 27 Prozent FPÖ wählen, hat etwas Entspannendes für mich. Es ist eben meine Geburtsstadt und jener Ort auf dieser Welt, den ich immer noch am besten kenne. Auch wenn Wien natürlich so viel schöner wäre „ohne Wiener“. [2]

Als Avi, gebürtiger Israeli und für einige Jahre beruflich in Wien, mit dem Fahrrad einen bösen Unfall hat, blutüberströmt auf der Straße liegt und sich nicht bewegen kann, dauert es mehr als eine Stunde, bis sich endlich unter all den Passant/innen eine junge Frau findet, die die Rettung ruft und zu helfen versucht. Das Erlebnis, hilflos auf der Straße zu liegen und dabei so völlig missachtet zu werden, gräbt sich in Avis Erinnerung als etwas Charakteris­tisches ein: Die Menschen in Österreich sind kalt und herzlos.

„Du wirst sehen – was mir in Wien passiert ist, das gibt es nicht in Israel; hier kümmert man sich um einander. Manchmal sogar zu viel“, meinte Avi im Zuge meiner Vorbereitungen zur Emigration nach Israel.

Lior, ein lieber Freund aus Jerusalem, erzählte mir, er benützt die öffentlichen Verkehrsmittel, „weil das Taxifahren einfach nicht zum Aushalten ist. Ich hab keine Lust, dauernd meine persönlichen Grenzen verteidigen zu müssen.“ Als er das letzte Mal mit seiner leicht übergewichtigen Schwester im Taxi saß, unterbrach der Taxifahrer das Gespräch der beiden, um Diättipps zu geben. „Weißt Du, das geht mir so auf die Nerven“, sagt Lior. Ich muss lachen: „In Israel kümmern sich die Menschen eben um einander“, sage ich zu ihm. Und dann lachen wir beide.

„Wir“ Österreicher/innen sind es gewöhnt, dass Zivilcourage so gut wie nicht existiert. Als Jüdin in Wien aufgewachsen, ist es für mich weiters normal, nur bestimmten Menschen gegenüber offen zu sein. Darüber nachzudenken, ob es „sicher“ ist, Familienherkunft, religiöse Traditionen und Gewohnheiten zu erwähnen oder gar zur Diskussion zu stellen, und doch die meiste Zeit darüber zu schweigen bzw. so zu tun als gäbe es diesen Aspekt meiner Persönlichkeit gar nicht, ist Alltag. Und das nicht, weil Neonazis um die Ecke biegen oder ich in irgendeiner anderen Art um mein Leben fürchten muss, sondern schlicht, weil es zu unangenehmen Situationen führt, in denen nichts anderes mehr Platz hat als diverse Projek­tionen, Abwehrformen oder gar vermeintlich politische Diskussionen zu Israel und dem Nahostkonflikt. Manchmal ist es auch fruchtbar, sich auf eine Debatte einzulassen, aber zumeist ist das Gegenteil der Fall. Der Wissensstand in Österreich ist erschreckend niedrig; die größten „Kritiker“ Israels waren noch nie im Land und die vehementesten Gegner von „Religion, egal welcher“, sind zu Weihnachten bei Mama und Papa.

Wenn ich heute Wien besuche, schmunzle ich, wenn ich gefragt werde, ob es denn sicher ist, in Israel zu leben. Oder wie ich denn der „Unterdrückung“ der arabischen Minderheit zusehen kann. Das fragt nur, wer noch nie hier war. Nirgends auf der Welt wird so viel für den Schutz und die Sicherheit der Bewohner/innen getan wie in Israel. Das ganze Land hat dreisprachige „Ortstafeln“ – jede Straße, jedes Ver­kehrsschild sowohl Ivrith, als auch Arabisch und Englisch. Fernsehprogram­me sind Arabisch, Russisch, Spa­nisch, Englisch und Ivrith. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem ich wohne, ist eine Synagoge, um die Ecke steht eine Kirche und um die andere Ecke eine Moschee. Manchmal höre ich alle drei auf einmal: Gesang vom Untergeschoss, die Kirchenglocken und den Muezzin. Und seit der Errichtung der Sperranlage 2003-2005 wurden 99 Prozent der (Selbstmord)Anschläge verhindert – übrigens auch ein Faktum, das in Österreich, in Europa nicht zur Kenntnis genommen werden will. [3]

Wenn ich heute Wien besuche, nehme ich ein Stück verinnerlichtes Israel mit. Es ist die innere Sicherheit, die entsteht, wenn unwichtig werden darf, ob man jüdisch ist oder nicht, weil alle um einen herum diesen Aspekt – vielfältig, bunt, divers, auf individuelle Art eben – teilen. Wir europäischen Einwanderer/innen kommen aus durch die Shoah fast ganz ausgelöschten und bis heute winzigkleinen jüdischen Gemeinden; es sind vielleicht ein paar tausend Menschen in unseren Herkunftsstädten, die sich alle mehr oder weniger kennen; alles ist bewacht und notwendigerweise sehr verschlossen. In Israel atmen wir frei. Wir dürfen so viel und so wenig jüdisch sein, wie wir gerade wollen. Niemand fragt danach. Denn es betrifft uns alle. Es spielt keine Rolle mehr. Es ist ohnehin da.

/

Hannah Fröhlich lebt seit 2009 in Tel Aviv und arbeitet als Übersetzerin.

Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser

Der Text erschien am 17. September 2011 in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“.

Anmerkungen

1) Holocaust Gedenktag

2) Georg Kreisler, „Wien ohne Wiener“

3) Während der Fertigstellung meines Textes beendeten der blutige Terroranschlag des Dschihad auf einen Linienbus nach Eilat, der trotz bekundeter Waffenruhe fortdauernde Raketenbeschuss der Hamas aus dem Gazastreifen sowie die allgemeinen politischen Umwälzungen in der arabischen Welt die ruhigste und sicherste Zeit, die Israel in gut 10 Jahren gesehen hatte.