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Die Conversations sollen Denkräume zwischen den Autor/innen und ihren Bezugnahmen auf den Referenztext eröffnen. Die Redaktion stellt eine Reihe von Fragen, welche die Autor/innen wählen bzw. auch verwerfen können. Zu antworten, nicht zu antworten und eigene Themen einzubringen, steht den Autor/innen frei.

Conversations Hannah Fröhlich / Nicola Lauré al-Samarai

Conzepte /

Interessant finde ich Eure Textauswahl, die Überschneidungen ebenso wie die Unterschiede. Nach welchen Kriterien habt Ihr Passagen aus dem Arendt-Text ausgesucht und gekürzt?

Nicola Lauré al-Samarai /

‚Individuelle Collagen‘ sind diffizil – man legt eigene Verständniskriterien an den Beitrag eines Autors, einer Autorin an und nimmt dadurch gewisse Fokusverschiebungen vor. Dennoch habe ich mich mit der Auswahl von Textstellen nicht schwer getan. Schon beim ersten Lesen stach mir ein symptomatisches überzeitliches Moment ins Auge, das Besuch in Deutschland wie ein roter Faden durchzieht und von Hannah Arendt in unbestechlicher Weise eingekreist und fassbar gemacht worden ist: die Zurückweisung von Verantwortung für etwas Geschehenes.

Mir lag daran, diesen als „Realitätsflucht“ bezeichneten Fakt so zu verdichten, dass er unausweichlich wird. An der Realität speziell dieser Realitätsflucht hat sich bekanntlich wenig geändert.

Hannah Fröhlich /

Ich habe großen Respekt vor den Arbeiten von Hannah Arendt, und es fiel mir unendlich schwer, eine Auswahl zu treffen. Eine Auswahl zu treffen bedeutet ja doch auch immer, sich etwas ‚herauszunehmen‘, also ‚frech‘ zu sein, durch Kürzungen Schwerpunkte zu setzen und Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen.

Ich finde, speziell diesen Text von Arendt sollte man jeden Monat einmal in einer anderen Zeitung gesamt abdrucken. Aber ich verstehe natürlich, dass dies schon allein wegen der Länge nicht so einfach ist… Wie habe ich also die Textstellen ausgewählt? Ich habe den Arendt-Text mehrmals gelesen – sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch – und mir zu den verschiedenen Abschnitten jeweils notiert, was mir spontan dazu einfiel. Dann habe ich versucht, durch bestimmte Worte bzw. Zwischentitelsetzungen den Bezug zu Arendts Text herzustellen, ohne ihn explizit beschreiben zu müssen. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist.

Conzepte /

Wieso denkst Du, dass Besuch in Deutschland einmal im Monat veröffentlicht werden sollte?

Hannah Fröhlich /

Dieser Text enthält bereits alles, was unsere Gesellschaft (mit leichten Unterschieden in ihrer ‚Farbe‘ vielleicht jeweils in Deutschland und Österreich) nach 1945 charakterisiert: die Weigerung, das Geschehene anzuerkennen, und die damit einhergehenden ‚Auffälligkeiten‘ wie Fleiß (Wiederaufbau), Nivellierung von Leid, die charakteristische Nachkriegs-Politikverdrossenheit („dann eben lieber gar keine Politik“) bzw. überhaupt Interesselosigkeit.

Hier ist bereits alles sichtbar, alles liegt vor uns und das in erstaunlicher Klarheit zu einem so frühen Zeitpunkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus meiner Sicht schließen die Arbeiten von Margarete Mitscherlich (Die Unfähigkeit zu trauern) und alles, was wiederum darauf folgte, hier direkt an…

Conzepte /

Hannah Arendt ist vielfach instrumentalisiert worden. Ihre Überlegungen zur „Banalität des Bösen“ (Eichmann in Jerusalem) wurden nicht nur von Revisionist/innen, sondern auch von linken, antirassistischen Kreisen dazu benutzt, um die Verbrechen der Nazis zu relativieren und zu normalisieren („das Potential zum Genozid steckt in jedem von uns“).

In Österreich herrscht immer noch der Mythos vor, wir seien das ‚erste Opfer Hitlers‘ gewesen. Die Angst oder die Weigerung, sich mit der eigenen (Familien)Geschichte zu konfrontieren, ist vielleicht auch ein (unbewusster) Ausdruck davon, selbst wenn man weiß, „dass die Großeltern begeistert dabei waren“. Unkenntnis der familiären NS-Verstrickungen, Antisemitismus, Psychoanalyse- und generell Intellektuellenfeindlichkeit sind deshalb auch in kritischen Kreisen leider keine Seltenheit…

In dem Essayband Zur Zeit, der auch Besuch in Deutschland enthält, findet sich im Nachwort der Herausgeberin Marie Luise Knott folgender Satz: „Wer wie Hannah Arendt bereits 1949 (Besuch in Deutschland) den Nationalsozialismus und den russischen Staatssozialismus als Totalitarismus parallelisierte, konnte kein Linker sein.“ Was denkt Ihr darüber?

Hannah Fröhlich /

Es gibt viele Formen, wie sich die Politik der Nachkriegsjahre bis heute in der österreichischen Gesellschaft widerspiegelt. Und im Privaten drückt sich das in unterschiedlicher, auch widersprüchlicher Weise aus. Ich denke, dass Besuch in Deutschland nicht das einzige Werk ist, bei dem Hannah Arendt mit Riesenschritten ihrer Zeit voran ging. Mit ihrem Bericht vom Eichmannprozess und der vielseitig missverständlichen und missverstandenen Frage nach der „Banalität des Bösen“ hat Arendt ebenfalls schon sehr früh den Kern des Unfassbaren an der Shoah angesprochen und damit etwas getroffen, das jede/r, der oder die sich ernsthaft mit der Shoah auseinandersetzt, erfahren muss: nämlich dass wir an Grenzen stoßen, wenn es darum geht, die Shoah zu verstehen. Und ich denke, beides – sowohl Eichmann in Jerusalem als auch Besuch in Deutschland – birgt unendlich viel Diskussionsstoff bis heute.

Nicola Lauré al-Samarai /

Wenn ich mir Besuch in Deutschland anschaue, sind die darin von Hannah Arendt frühzeitig ausgemachten Realitätsflucht-Momente nicht allein von einem Grundbedürfnis nach Relativierung unterlegt, sondern von einem dazugehörigen unbedingten Durchsetzungswillen. Das Erschreckende ist, dass und wie dieser Wille in den letzten Jahrzehnten zum tragenden Fundament einer geistigen Architektur geworden ist.

Saul Friedländer hat schon zu Beginn der 1980er Jahre von einem „neuen Diskurs des Nazismus“ gesprochen, und die verschiedenen Instrumentalisierungen Arendts verleihen diesem Diskurs auf ihre Weise Ausdruck. Es ist nicht von ungefähr, dass im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung vehement auf einer Parallelisierung von Nationalsozialismus und Staatsozialismus bestanden wurde und sich diese Konstruktion in den 1990er Jahren – trotz oder vielleicht gerade wegen der unterschiedlichen ideologischen Prägungen von Ost- und Westdeutschen – breitenwirksam durchsetzen konnte.

Conzepte /

Besuch in Deutschland ist 1950 im US-amerikanischen Magazin Commentary unter dem Titel Report from Germany erschienen. Die deutsche Übersetzung kam erst 1986 heraus… Wie findet Ihr die Übersetzung, wie würdet Ihr sie in ihrer Zeit verorten und seht Ihr Bedarf für eine aktuelle Neuübersetzung/Neulektüre von Arendts Text?

Nicola Lauré al-Samarai /

Übersetzungen sind ein heikles Unterfangen, denn sie sollten auch das transportieren und lesbar machen, was ein/e Autor/in an Subtexten kommuniziert. Dies ist in der deutschen Fassung nur bedingt gelungen. Wenn – und dieses Beispiel entbehrt nicht einer gewissen Ironie – eine jüdische Autorin einen Text mit dem Titel Report from Germany verfasst und dieser Text erst 36 Jahre später als Besuch in Deutschland erscheint, dann stellt sich mir die Frage, mit welcher Intention aus einem Sachlichkeit beanspruchenden Bericht ein Unbelastetheit suggerierender Besuch gemacht worden ist. Die Übersetzung weist derlei Um/Wege im Übrigen an so einigen Stellen auf. Über die Wahl bestimmter Worte, über die Art, wie etwas gesagt oder nicht gesagt wird, schiebt sich immer wieder ein erinnerungspolitischer Subtext ein, der nicht von der Autorin selbst stammt. In diesem Fall ist also auch die deutsche Sprache ein Indikator ebenjener Fluchtmomente, die Hannah Arendt in ihrem Bericht lokalisiert hat.

Es wäre daher durchaus über eine Neufassung des Textes nachzudenken. Allerdings müsste man dafür ‚Übersetzung‘ (auch) als sprachliches Zeitzeugnis begreifen und dessen einzelne Schichten kenntlich freilegen, um sie als solche lesbar und verhandelbar zu machen.

Conzepte /

Von Wien erscheint als ein humoristisch-essayistischer Hin- und Herreiseführer (Wien-Tel Aviv) für Ausreisewillige (oder schon Ausgereiste) ebenso wie für Selbstreflexionswillige. Kein Besuch in Deutschland erscheint als eine Mischung aus Vulkanisch mit ironisch-akademischem Wörterbuch ausgerüstet, verdichtet und zu Worten geballt. Wie seht Ihr Euren Stil? Welches Publikum hattet Ihr vor Augen?

Hannah Fröhlich /

Das ist eine schwierige Frage. Als ich an meinem Text zu arbeiten anfing, wussten wir noch nicht genau, wo er erscheinen wird. Wir hatten zwar Ideen und Wünsche, aber es war noch alles offen. Und ich hatte keine Lust, meine Gedanken in Rücksicht auf ein wahrscheinliches Publikum einzuschränken. Ich habe daher den Weg gewählt, an all jene Menschen zu denken, denen ich das Geschriebene gerne mitteilen will – mein Publikum waren also, wenn man so will, meine jüdischen und nicht-jüdischen Freunde, sowohl in Wien als auch in Israel und sonst wo in der Welt.

Ich wollte möglichst verschiedene Ebenen des Hier- oder Dortseins herausarbeiten, ein paar Dinge ganz direkt beim Namen nennen, aber doch nicht der Versuchung erliegen, das Neue zu idealisieren. Das wäre verfehlt gewesen. Denn ich gehöre bestimmt nicht zu jenen Menschen, die anderen nahelegen, zu tun, was ich getan habe: Es ist ziemlich verrückt, einen guten Job, einen funktionierenden Freundeskreis, die eigene Sprache und Umgebung zu verlassen und sich auf ein Leben einzulassen, von dem man nicht wissen kann, wie es sein wird. Man muss bereit sein, mit Verunsicherung, Sprachbarrieren, Ungewissheiten umzugehen. Das ist nicht einfach! Und Ideologie allein, gleichgültig welche, reicht für einen solchen Schritt nicht aus. Von den Freunden und Bekannten in meiner Umgebung, die aus vorrangig ideologischen Motiven nach Israel zogen, sind nur wenige auch geblieben. Die Enttäuschung darüber, dass man hier wie dort seine Existenz sichern und nette wie unliebsame Menschen und Situationen vorfindet, war groß und für die, denen der Zionismus schon ab den frühen Kinderjahren eingetrichtert worden war, oftmals auch traumatisch…

Die Arbeit an dem Text war für mich auch ein Weg, meine Erfahrungen im neuen Land zu reflektieren, zusammenzufassen und in eine Form zu bringen. Und das alles inspiriert vom meisterhaften Text Arendts. Was für ein Luxus!

Nicola Lauré al-Samarai /

In meinem Text wollte ich mich, vor dem Hintergrund von Arendts Überlegungen, so frei wie möglich mit einer virulenten Alltäglichkeit auseinandersetzen, die hierzulande von vielen Menschen geteilt wird: das rassistische Spannungsverhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Dieses wird über ein nicht-weißes Außenauge in den Blick gerückt, das zwar verwandt und beteiligt ist, gleichzeitig aber den Ort des Geschehens nicht kennt und ihn deshalb buchstäblich ‚ungewohnt‘ betrachtet.

Man kann der Absurdität herrschender Wahrnehmungsmuster zuweilen nur mit abseitigem Humor begegnen. Humor dient hier als Mittel der Annäherung an all die historischen Ungeheuerlichkeiten, die diesen Wahrnehmungsmustern und ihren Ausagierungen zugrunde liegen. Dafür auf den kenntnisreichen scharfsinnigen Witz meines real existierenden Cousins zurückgreifen zu dürfen, war sehr hilfreich.

Conzepte /

Haltet Ihr es für sinnvoll, NS- und Kolonialgeschichte aufeinander zu beziehen und ihre Auswirkungen zu vergleichen?

Nicola Lauré al-Samarai /

Ich halte das kritische Herausarbeiten von historischen Bezügen und Verknüpfungen generell für sinnvoll, was natürlich auch für ein Zusammendenken von Kolonialismus und Nationalsozialismus gilt. Aus meiner Sicht ist es so kurzsichtig wie unverantwortlich, die europäische – ergo auch die deutsche oder österreichische – Geschichte des 20. Jahrhunderts losgelöst vom Kolonialismus und seinen Grundlegungen zu betrachten. Zugleich glaube ich, dass vor diesem Hintergrund eine nicht relativierende Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus unter anderen Fragestellungen und mit einem erweiterten Blickwinkel erfolgen könnte. Dass diese Verbindungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Regel negiert werden, sagt eine Menge aus über das historische Moment, in dem wir uns befinden. Angesichts des etablierten Wissenschaftsbetriebes, der Medien und anderer Öffentlichkeitsbereiche mag ich mir gar nicht vorstellen, wie solche Diskussionen derzeit geführt werden würden. Aber ‚derzeit‘ ist ja erfreulicherweise relativ.

Conzepte /

Welche neuen Überlegungen, Ideen und Utopien entstehen für Euch? Eine Assoziation: Bei Nicola liegt das utopische Potential in der Frage, wer hier wen zu Besuch erwartet, und in der Konsequenz, nicht wiederzukommen – was eine verlassene und uninteressante Science Fiction Landschaft von ein paar wenigen Blondblauäugigen vor meinen Augen entstehen lässt (die einander womöglich noch Ansichtskarten über die ruinöse Situation schreiben), aber das ist eine Negativutopie. Bei Hannah klingt das utopische Potential im Schreiben über Israel und der Bedeutung des Jüdischseins in Israel an – wenn ich mir das hier in Österreich vorstelle, ist das Utopie. Aber wie würde es aussehen, wenn es sich hier entwickelte?

Nicola Lauré al-Samarai /

Mit dem Utopiebegriff kann ich wenig anfangen, was vermutlich daran liegt, dass er mir sozialisationsbedingt schwer verleidet ist. Negativutopien könnte ich allenfalls als dramaturgisches Mittel etwas abgewinnen, aber die werden, inklusive apokalyptischer Horrorszenarien, leider schon von blondblauäugigen Übriggebliebenen okkupiert. ‚Horror‘ ist in diesem Zusammenhang natürlich eine Frage der Perspektive. Als im vergangenen Jahr das völkische Machwerk von Thilo Sarrazin erschien, war ich fast ein bisschen neidisch auf den genialen Titel. Deutschland schafft sich ab – was für eine Vision!

Wobei es in dem Zusammenhang sicherlich treffender wäre, von ‚visionärer Realität‘ zu sprechen, denn althergebrachte Vorstellungen von Deutschsein, Weißsein, Angestammtheit, nationaler Leitkultur oder deutschen Grundwerten können keinerlei Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen. Die Blut-und-Boden-Nummer ist faktisch passé, eine neue deutsche Landkarte längst im Entstehen. Bestimmt wird es irgendwann einen Reiseführer geben, der die darauf befindlichen Risse und Brüche, die Unebenheiten und Unzugänglichkeiten nicht einebnet, sondern für sehens-würdig erklärt. Wenn sich – um die Lyrikerin May Ayim zu bemühen – „entfernte verbindungen, verbundene entfernungen“ auf diese Weise bereisen lassen, dann sind wir hoffentlich im Hiersein angekommen.

Hannah Fröhlich /

Ich mag diese Frage, denn sie erinnert daran, dass Israel selbst aus einer Utopie heraus entstanden ist: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen,“ sagte Theodor Herzl lange vor der Shoah. Aus meiner Sicht haben die Voraussetzungen, die zu der Idee eines jüdischen Staates führten, im Laufe der Zeit zwar andere ‚Farben‘ angenommen, im Wesentlichen aber haben sie sich nicht geändert. Antisemitismus in seinen vielen Formen umgibt uns überall. Gleichzeitig – und das mag jetzt widersprüchlich klingen – ist es doch so, dass man überall glücklich oder unglücklich sein kann. Denn das, was uns glücklich oder unglücklich macht, liegt in unseren Breiten zum überwiegenden Teil nicht an dem, was mit uns – also Außen – passiert, sondern an dem, was in uns passiert. Wenn es nicht gelingt, innere Prozesse – Gefühle, Phantasien, Erwartungen, Vorstellungen – von den äußeren Geschehnissen zu trennen (bei Freud: Erfahrenes zu analysieren), dies zu erkennen und (sich) zu verstehen, dann wird auch der Wechsel des Wohnortes, der Arbeit oder des Partners, der Partnerin am empfundenen Unglück nichts ändern. Und dieser Prozess, das Heraus-Klauben, Sich-klar-Machen und das Zulassen der daraus entstehenden inneren Veränderung ist wesentlich schwieriger und Angst einflößender, als seine gewohnte Umgebung zu verlassen und irgendwo neu anzufangen. Denn dieser Prozess bedeutet, sich unserem Leben und dem, was uns geformt und beeinflusst hat, der Trauer über Versäumtes und Fehlendes, aber auch der uns innewohnenden ‚Gewaltigkeiten‘ zu stellen und eine tiefe, innere Verantwortung zu übernehmen für unser eigenes Wohlergehen, trotz und mit all dem, was uns unglücklich gemacht hat. In anderen Worten: einen solchen Prozess zu durchlaufen, bedeutet unter anderem auch, nicht mehr sagen zu können: die anderen (die Juden, die Ausländer, …) sind schuld. Und hier schließt sich der Kreis zum Text von Hannah Arendt.

Meine Utopie wäre also weniger, so etwas wie Israel in Österreich zu erreichen, als vielmehr die Voraussetzungen dafür zu schaffen – und dazu gehören zunächst die klassischen linken Anliegen wie die Beseitigung von repressiven politischen Systemen, Hunger und Armut, Rechtlosigkeit –, dass jeder Mensch diesen Prozess des Herausklaubens und Klarmachens durchleben, erleben kann und darf. Anders ausgedrückt: dass jeder Mensch im Freudschen, psychoanalytischen Sinne lernen darf, glücklich zu sein, ganz gleich, wo er oder sie sich befindet. Ich denke, frei nach Adorno, dass erst dann eine Welt entstehen kann, in der jede/r ohne Angst verschieden sein darf.

/

Das Gespräch mit Hannah Fröhlich und Nicola Lauré al-Samarai über ihre Texte zu Hannah Arendts Essay Report from Germany / Besuch in Deutschland (1950/1986) wurde per Email geführt und redaktionell gekürzt. Die Fragen stellte Jo Schmeiser.

Literatur

Arendt, Hannah: „Report from Germany“, in: Zeitschrift Commentary, New York 1950

Arendt, Hannah: „Besuch in Deutschland“, Übersetzung: Eike Geisel, in: Marie Luise Knott (Hg), Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1986 / 1999

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New York 1963

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964 / 1986

Ayim, May: „entfernte verbindungen“, in: blues in schwarz weiss. gedichte, Berlin 1995

Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München/Wien 1984

Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967 / 1977