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Unbehaglich durchgehend
Rúbia Salgado, 2012

Sie saß im Frühstücksraum des Hotels. Ein Hotel in Stuttgart ganz in der Nähe vom Künstlerhaus, wo Ausstellung und Veranstaltungsprogramm stattfanden. 2004. Sie saß da und die andere trat ein. Beide von den Veranstalter/innen eingeladen. Nur die zwei im Raum, so die Erinnerung, aber vielleicht doch andere da. Wie das Gespräch anfing, vergaß sie. Eine sonst unmögliche Komplizität schwebte im Raum. Einige Striche von Gesprächen entlangten sich. [1] Sie erzählten sich wie und warum der jeweiligen Anwesenheiten. Eine beschäftigte sich aus der Perspektive einer Migrantinnenorganisation mit Anthropofagie, Thema der Ausstellung Entre Pindorama. Zeitgenössische brasilianische Kunst und die Adaption antropofager Strategien. Die andere wurde als Sänger/in nach Europa eingeladen. Neben und verschränkt mit dem Programm der Ausstellung Auftritt beim Ladyfest in Stuttgart. Und an anderen Orten.

Tati Quebra Barraco, die im Frühstücksraum des Hotels saß, ist Funkeira. Schwarze Sängerin, Bewohnerin einer der zahlreichen Favelas in Rio de Janeiro, breit rezipierte Vertreterin einer Generation von Musikerinnen, die die Bewegung Funk carioca, also Funk aus Rio de Janeiro, initiierten und gestalten. Rúbia Salgado, also ich, bin noch nie in einem baile Funk gewesen, höre Funk selten und meistens durch einen Filter der Beobachtung. Ein durch distanziertes Nachdenken markiertes Hören. Nicht weil mein Wohnort sich nach Norden verlagerte, sondern vor allem aufgrund meiner sozialen Verortung im Gewebe der brasilianischen Gesellschaft.

Kontrovers entfalten sich Äußerungen und Meinungen und Beurteilungen. Funk sei rau. Schockiere Sensibilitäten bestimmter gesellschaftlicher Sektoren. Denn Funk sei sexistisch. Und gewaltverherrlichend. Gleichzeitig wird er als politisches Narrativ betrachtet, das durch Sprechakte Bedeutungen produziere und Identitäten und soziale Normen performe und re-signifiziere. Zitate und Re-signifikation sozialer und sprachlicher Normen: Gender, race und Sexualität. Funk als Interventionsraum. Als Raum der Artikulation Schwarzer Subjekte aus der Peripherie im Zentrum. Verletzlichkeiten und Widerstände. Diskriminierung und Kriminalisierung von Funk seien klassistisch und rassistisch begründet. Funk gesehen als dem historischen Prozess der gewalttätigen Verfolgung und Diffamierung kultureller und sozialer Bewegungen Schwarzer Gruppen eingeschrieben.

Funk als Musik und soziale Bewegung sei Aneignung und Transformation des Hip Hop. 80er-Jahre Hip Hop, Miami Bass. Funk carioca und Anthropofagie. Tati Quebra Barraco als Anthropofagin nach Europa eingeladen. Die Anthropofagie in der (Literatur- und Kunst-)Geschichte Brasiliens seit dem Modernismus als Strategie in der Auseinandersetzung mit der Kontinuität der kolonialen Herrschaft. Allerdings von weißen Künstler/innen, Autor/innen, Intellektuellen. Eine ästhetische und kulturelle Haltung des Verzerrens und der kritischen Assimilation von kulturellen Werten, die nach Brasilien trans-plantiert wurden/werden. Sowie eine Haltung zur Betonung der Elemente und kulturellen Werte, die durch den Kolonisierungsprozess unterdrückt wurden. Anthropofagie: das Fressen von Menschen. Der bewundernswerten Eigenschaften wegen. Um sich das Bewunderte anzueignen. Tati Quebra Barraco als Anthropofagin nach Europa eingeladen.

Funk als anthropofagische Aneignung von musikalischen Bewegungen aus den USA. Aber Schwarze Musik aus den USA. Die Frage nach der Angemessenheit der Übertragung des Konzeptes auf den Funk hier lediglich entworfen.

Tati Quebra Barraco als Feministin nach Europa eingeladen. Der Funk zuerst männerdominiert, dann der Aufbruch der Funkeiras. Schwarze Frauen, denen in unterschiedlichen Öffentlichkeiten in Brasilien das Attribut „feministisch“ zu sein kontroversiell zu- oder abgesagt wird. Anlässlich der Einladung von Tati Quebra Barraco nach Europa häuften sich empörte Stimmen in den brasilianischen Medien zusammen: Sie sei keine legitime Vertreterin der brasilianischen Kultur und zudem keine Feministin. Oder eine falsche Feministin. Andere Stimmen hingegen verteidigten den Funk als Kultur und stellten die Sängerin als Angehörige einer neofeministischen Bewegung dar.

Ich suchte nach einem Zugang zum Lied Strange Fruit. Unbehaglich durchgehend begleitet von der Hinterfragung der Angemessenheit dieser öffentlichen Äußerung. Ich, die ich diesen Text verfasse. Aufgrund der Position, von der aus mein Denken und Sehen und Sprechen und Hören sich strukturieren, in einen Widerspruch eingetaucht. Nicht Schwarz. Keine Funkeira. Aber auch nicht majoritär. Kein Teil der weißen Gesellschaft. Nicht privilegiert, in der Weise. Ich suchte nach einem Zugang, der weder Unbehaglichkeit noch Widerspruch (ganz) auslöschen würde. Monate vergingen. Gespräche. Nachdenken. Recherche. Dann ein Text von Angela Davis. [2] Weiße Männer, Manager und/oder Lokalbesitzer, behaupten, Billie Holiday hätte die politische Dimension des Liedtextes nicht wahrnehmen können, erst nach deren Anregungen und Aufklärung wäre sie einsichtig geworden und hätte das Lied in ihr Repertoire aufgenommen. Als „nicht genug gebildet“ wäre sie nicht in der Lage gewesen, so die weißen Männer, den Text in seiner Relevanz zu verstehen.

Billie Holiday selbst erzählt ihre andere Geschichte. In ihrer Autobiografie erwähnt sie das Treffen mit dem Autor, Lewis Allen (alias Abel Meeropol), im Café Society, als ihr der Text zum ersten Mal begegnete. Sie berichtet über ihre Motivation, das Lied zu singen. Über die Assoziationen mit der Gewalt des Rassismus, an dessen Folgen auch ihr Vater gestorben ist. Ihre Autobiografie wollte sie Bitter Crop (die letzten beiden Worte des Lieds) nennen. Der Titel Lady sings the blues wurde vom Verlag entschieden, weil er als besser verkäuflich galt. [3] Die Gegenerzählung zur Dequalifizierung. Aberkennung. Selbstprofilierung und Verfestigung machtvoller Positionen. Nichts Überraschendes. Rassismus und Sexismus. Nicht überraschend ebenso das Abstempeln von Tati Quebra Barraco – und allen anderen Funkeiras – als Nicht-Feministin. Nicht verwunderlich die kulturpolitische Aberkennung ihrer Arbeit. Die Betonung der fehlenden formal/bürgerlich/hegemonial geformten Bildungsbiografie als Verunmöglichung bewusster politischer Handlungen. Nicht gebildet, daher nicht fähig, politisch zu denken und zu handeln. Im Kontext rassistischer, sexistischer, klassistischer Gesellschaften.

Anders als Billie Holiday, die über ihre bewusste Entscheidung für das Lied und für eine widerständige politische Haltung erzählt, äußert sich Tati Quebra Barraco nicht über ihre Haltung zu Feminismus, Antirassismus und anderen politischen Kämpfen. Außer sie wird explizit gefragt. Da sagt sie in der Regel: Wenn die Öffentlichkeit meine, sie sei Feministin, dann solle es halt gelten. Oder ihre Texte und Performances werden dahingehend interpretiert. Eine Subjektposition in Differenz zum weißen bürgerlichen Subjekt des westlichen Feminismus, die sich daher nicht selbst als Feministin bezeichnen kann. Oder will. So einige Interpretationen seitens feministischer Theoretiker/innen. Tati Quebra Barraco würde die Position der Frau im heterosexuellen und rassistischen Kontext re-signifizieren. Sie eigne sich die Konstruktion der Frau als Objekt an und transformiere das vermeintliche Objekt in ein Subjekt der Enunziation. Sie spreche als Subjekt ihres Begehrens. Das Einsetzen des Vokabulars, das Frauenunterdrückung sprachlich darstellt und konstituiert, als Widerstandstrategie. Das Einsetzen des Vokabulars, das Schwarze im Einklang mit einer entlang rassistischer Klassifizierung festgelegten Schönheitsdefinition als „hässlich“ beschreibt, und die Verschiebung der Bedeutungen durch Umkehrung des Machtverhältnisses. Wie im Lied Sou feia, mas tô na moda: „Não tenho cabelo liso, não sou gostosa, mas tô comendo seu marido.“ („Ich bin hässlich, aber ich bin trendy“: „Meine Haare sind nicht glatt, ich schaue nicht geil aus, aber ich ficke deinen Mann.“)

Unbehagen und Widersprüche: als weiße queer-Feministin darüber zu schreiben. Gleichgesetzt mit den weißen Gesichtern der Akademiker/innen, die zwischen baile-Funk-Szenen in Dokumentarfilmen erscheinen, die Bewegung erklärend, analysierend. Das Benennen der Widersprüche. Das Unbehagen besteht. Aber das war der Anspruch im Widerspruch.

Und dennoch ein weiterer Schritt. Ich suche aus der Ferne und stoße auf Hinweise: Der Funk erweitert seine Grenzen und redet über heterosexistische Gewalt und über Gewalt gegen Transsexuelle. Valesca Popozuda, eine ebenfalls bekannte Funkeira aus Rio de Janeiro, sucht eine transsexuelle Tänzerin für ihre Gruppe Gaiola das Popozudas. Jedoch: Valesca ist weiß. Die ausgewählte Tänzerin ist ebenfalls weiß. Eine lesbische Funk Gruppe entsteht. Jedoch: Nicht in Rio, sondern in Brasilia, alle Mitglieder der Gruppe weiße Student/innen. Zwei queere Künstler/innen gründen unter starker Anlehnung an den Funk carioca die Band Solange, tô aberta! („Solange, ich bin offen!“). Jedoch: Beide sind weiß. Nicht aus Rio de Janeiro und nicht aus Favelas.

Solange, tô aberta!: die Intention, hegemoniale Diskurse und Verhalten und Normen sichtbar zu machen, ihnen zu widersprechen, sie zu dekonstruieren. Die Apologie des Transvestismus. Gegenerzählungen, Gegenpositionen zu den Dogmen der katholischen Kirche. Zur Binarität. Zur Heteronormativität. Positionierung für die Legalisierung der Abtreibung. Unterstützung der Schwarzen Bewegung. Der LGBT Bewegung. Unterstützung und Solidarisierung mit Frauen und allen Subjekten, die gesellschaftlich verstummt werden.

Die Entscheidung für den Funk als musikalische Basis begründen sie mit dem Hinweis auf die dadurch entstandene Möglichkeit, über unterschiedliche Themen sprechen zu können, auf eine einfache Art, direkt, ironisch, und vor allem ungemütlich für eine große Mehrheit. „Eu sei que eu tenho o que seu marido gosta, carinha de boneca e uma piroca bem grossa.“ („Ich weiß, dass ich das habe, was dein Ehemann mag, Puppengesicht und einen dicken Schwanz.“): Auftritt von Solange, tô aberta! auf dem queer Festival Transgenialer CSD, Berlin 2011. Als queere Funk Band nach Berlin eingeladen.

Letzte Szene: Christopher Street Day (CSD) Parade, Rio de Janeiro 2011. Während eines meiner Aufenthalte in der Stadt. Die deutliche Mehrheit der hunderttausenden Mitmacher/innen ist Schwarz. Der Eindruck, die meisten aus verarmten Segmenten der Gesellschaft. In den Medien nachgelesen, mit Freund/innen ausgetauscht: Die weiße queere Mittelschicht geht nicht hin. Angst vor Gewalt. Man vermischt sich nicht, lautet die (vielleicht nicht immer ausgesprochene) Begründung. Eine klassistisch und rassistisch strukturierte Gesellschaft.

Die Parade. Der Funk aus den Lautsprechern, die Stimmen mitsingend, die Erinnerung an das Gespräch mit Tati Quebra Barraco. An Solange, tô aberta!. Die Lieder. Die Widersprüche. Die Gewalt und die Kurven, die Pfade, die Unterbrechungen und Verschiebungen, die Strategien und die Politisierungsprozesse in der populären Kulturproduktion. Die Bewegungen, das Ansprechen und das Sichtbarmachen von Gewalt. Strange Fruit: „[…] a song that was able to awaken from their apolitical slumber vast numbers of people from diverse racial backgrounds.“ (Angela Davis) Ein Lied und die Ungemütlichkeit, das Erschüttern. Verletzlichkeit und Widerstand. Strange Fruit und Billie Holiday. Der Text geschrieben von einem weißen jüdischen Mann. Angeeignet von einer Schwarzen Sängerin und zum Symbol des Protests und des Widerstandskampfes gegen die Gewalt an Schwarzen gemacht. Aneignung, Transformation, Verschiebung. Poesie zu Poesie und Kampf geworden.

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Rúbia Salgado ist als Erwachsenenbildnerin, Kulturarbeiterin und Autorin in selbstorganisierten Kontexten tätig.

Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser

Der Text erschien am 25. Januar 2013 in der internationalen Kunstzeitschrift „springerin“.

Anmerkungen

1) Aus dem Adverb „entlang“ wird das Verb „sich entlangen“. In meinen Texten bilde ich oft Neologismen als Zeichen oder Ergebnis des In-Anspruch-Nehmens der Deutschsprache als hegemoniale Sprache.

2) Angela Y. Davis, Blues Legacies and Black Feminism: Gertrude “Ma” Rainey, Bessie Smith, and Billie Holiday, New York 1998

3) Billie Holiday, mit William Dufty, Lady Sings the Blues, New York 1956 / 1984