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Das andere Geschlecht
Simone de Beauvoir, 1949

Erstes Buch: Einleitung

Was ist eine Frau?
Gibt es überhaupt Frauen?

Nicht jeder weibliche Mensch ist also zwangsläufig eine Frau; er muß an jener geheimnisvollen, bedrohten Realität, der Weiblichkeit, teilhaben. Wird diese von den Eierstöcken produziert? Oder ist sie eine abgehobene platonische Idee? Genügt ein aufreizender Unterrock, um sie auf die Erde herunterzuholen? Obwohl manche Frauen sich eifrig bemühen, sie zu verkörpern, wurde ein Gebrauchsmuster nie festgelegt. Das Weibliche wird gern in unbestimmten, schillernden Ausdrücken beschrieben, die dem Wortschatz von Seherinnen zu entstammen scheinen.

Mit Sicherheit ist die Frau wie der Mann ein Mensch: aber eine solche Behauptung ist abstrakt. Tatsächlich befindet sich jeder konkrete Mensch immer in einer einzigartigen Situation. Die Begriffe vom Ewigweiblichen, von der schwarzen Seele, vom jüdischen Charakter abzulehnen, bedeutet ja nicht zu verneinen, daß es heute Juden, Schwarze, Frauen gibt: diese Verneinung wäre für die Betroffenen keine Befreiung, sondern eine Flucht ins Unauthentische. Selbstverständlich kann keine Frau, ohne unaufrichtig zu sein, behaupten, sie stünde jenseits ihres Geschlechts.

So weit die Geschichte zurückreicht, sind [die Frauen] dem Mann immer untergeordnet gewesen: ihre Abhängigkeit ist nicht die Folge eines Ereignisses oder einer Entwicklung, sie ist nicht geschehen. Zum Teil erscheint die Alterität, eben weil sie nicht der Zufälligkeit des historischen Geschehens unterliegt, hier als ein Absolutes. Eine Situation, die im Laufe der Zeit entstanden ist, kann sich in einer anderen Zeit wieder auflösen: die Schwarzen von Haiti zum Beispiel haben es ja bewiesen. Natürliche Verhältnisse dagegen scheinen jeder Veränderung zu trotzen. In Wirklichkeit ist die Natur ebensowenig eine unwandelbare Gegebenheit wie die historische Realität. Wenn die Frau sich als das Unwesentliche erkennt, das sich nie ins Wesentliche umkehrt, so weil sie selbst diese Umkehrung nicht vollzieht. […] Die Frauen sagen nicht „wir“, außer auf bestimmten Kongressen, die theoretische Kundgebungen bleiben. […] Es fehlen ihnen nämlich konkrete Mittel, um sich zu einer Einheit zusammenzuschließen, die sich selbst setzt, indem sie sich entgegen-setzt. Sie haben keine eigene Vergangenheit, Geschichte oder Religion. Sie bilden im Gegensatz zu den Proletariern keine Arbeits- und Interessengemeinschaft. Zwischen ihnen gibt es nicht einmal das räumliche Miteinander, das die amerikanischen Schwarzen, die Juden in den Gettos, die Arbeiter von Saint-Denis oder die der Renault-Werke zu einer Gemeinschaft macht. […] Als bürgerliche Frauen sind sie solidarisch mit den bürgerlichen Männern und nicht mit den Frauen des Proletariats, als Weiße mit den weißen Männern und nicht mit den schwarzen Frauen. […] Das Band, das sie mit ihren Unterdrückern verbindet, ist mit keinem anderen vergleichbar. Die Geschlechtertrennung ist nämlich eine biologische Gegebenheit, kein Merkmal der Menschheitsgeschichte. Aus einem ursprünglichen Mitsein hat die Gegensätzlichkeit sich allmählich herausgebildet, und die Frau hat sie nicht durchbrochen. Das Paar ist eine Grundeinheit, deren Hälften aneinander gefesselt sind: eine Spaltung der Gesellschaft nach Geschlechtern ist nicht möglich. Das ist das wesentliche Charakteristikum der Frau: sie ist das Andere in einem Ganzen, dessen Elemente einander brauchen.

Erstes Buch: Mythos

Vielleicht wird der Mythos Frau eines Tages verschwinden: je mehr die Frauen sich als Menschen behaupten, desto mehr stirbt in ihnen die wunderbare Eigenschaft des Anderen. […] Jeder Mythos impliziert ein Subjekt, das seine Hoffnungen und Ängste auf einen transzendenten Himmel hin projiziert. Da die Frauen sich nicht als Subjekt setzen, haben sie keinen männlichen Mythos geschaffen, in dem sich ihre Entwürfe spiegeln. Sie haben keine Religion und keine Dichtung, die ihnen selbst gehört: sogar wenn sie träumen, tun sie es auf dem Weg über die Träume der Männer.

Zweites Buch: Werdegang

Das große Mißverständnis […] besteht in der Annahme, daß es für das weibliche Menschenwesen natürlich sei, eine feminine Frau aus sich zu machen. Zur Verwirklichung dieses Ideals reicht es nicht aus, heterosexuell, ja nicht einmal Mutter zu sein. Die „wahre Frau“ ist ein Kunstprodukt, das die Zivilisation erzeugt, wie sie einst Kastraten erzeugte.

Es ist wichtig hervorzuheben, dass es nicht immer die Weigerung ist, sich zum Objekt zu machen, die eine Frau zur Homosexualität führt. Die meisten Lesbierinnen suchen sich im Gegenteil die Schätze ihrer Weiblichkeit anzueignen. Das Einverständnis, sich in ein passives Ding zu verwandeln, ist kein Verzicht auf jeden subjektiven Anspruch. Die Frau hofft, sich so in Gestalt des An-sich zu erlangen. Gleichwohl wird sie versuchen, sich wieder in ihrer Alterität zu erfassen. In der Einsamkeit gelingt es ihr nicht, sich wirklich aufzuspalten. Mag sie ihre Brust liebkosen – sie weiß nicht, wie ihre Brüste sich einer fremden Hand offenbaren, noch welches Lebensgefühl sie unter der fremden Hand entwickeln würden. Ein Mann kann ihr die Existenz ihres Fleisches für sich enthüllen, nicht aber, was es für andere ist. Erst wenn ihre Finger den Körper einer Frau befühlen, deren Finger umgekehrt auch über ihren Körper gleiten, kann das Wunder des Spiegels geschehen. Zwischen Mann und Frau ist die Liebe ein Akt. Von sich selbst losgerissen, wird jeder anders: die Verliebte sieht entzückt, wie das passive Sehnen ihres Fleisches sich im Drängen des Mannes spiegelt. Die narzißtische Frau aber erkennt ihre verführerischen Reize in dem aufgerichteten Glied nur sehr verschwommen wieder. Unter Frauen ist die Liebe Kontemplation. Die Zärtlichkeiten sind weniger dazu bestimmt, sich die Partnerin anzueignen, als sich über sie ganz allmählich wiederzufinden.

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Le deuxième sexe, © 1949 Editions Gallimard, Paris: www.gallimard.fr. Das andere Geschlecht, © 1951 Rowohlt Verlag Hamburg. Hier zitiert wird Das andere Geschlecht in der Neuübersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald, © 1992 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. Zitate auf Seite 9, 10, 14ff, 193f, 496f und 506f.